Ägypten und Zweistromland

Anfang des 20. Jahr­hun­derts hat sich Wal­ter A. Mül­ler auf Anre­gung von Prof. Franz Stud­nicz­ka dar­an bege­ben, die damals bekann­ten Zeug­nis­se der Völ­ker des frucht­ba­ren Halb­monds, Ägyp­tens und Grie­chen­lands zu ana­ly­sie­ren auf das Vor­kom­men von »Nackt­heit« (völ­li­ge Klei­der­frei­heit) und »Ent­blö­ßung« (ein­zel­ner Kör­per­par­tien, z. B. des Geschlechts). Die nach­fol­gen­den Zita­te (grü­ne Schrift) ent­stam­men sei­nem Buch. [W.A. Mül­ler, Nackt­heit und Ent­blö­ßung, Teub­ner 1906].

Ägypten (ab 1. Dynastie ca. 3032 v. C.)

»Die Denk­mä­ler der ältes­ten Zeit zei­gen bei den meis­ten Ägyp­tern als ein­zi­ge Beklei­dung eine Hüft­schnur, an dem vorn ein läng­li­ches Fut­te­ral hängt, in dem das Glied gebor­gen wird.« Die Inter­pre­ta­ti­on der Schlei­fe, die auf den Bil­dern von der Hüft­schnur vorn her­un­ter­hängt, als Penis­fut­te­ral, geht aus den Bil­dern aller­dings nicht zwin­gend her­vor — es könn­ten auch ein­fach her­ab­hän­gen­de Schlau­fen und Schnu­ren­den sein: Ein extrem spar­sa­mer Schurz.

Altes Reich, 4. Dynastie, Pyramiden in Gizeh, Grab 75: Einige Männer tragen eine Hüftschnur, die vorn mit einer Schleife gebunden ist, andere tragen gar nichts, der Chef ist mit einem Schurz bekleidet. (1/16)Altes Reich, 4. Dynas­tie, Pyra­mi­den in Gizeh, Grab 75: Eini­ge Män­ner tra­gen eine Hüft­schnur, die vorn mit einer Schlei­fe gebun­den ist, ande­re tra­gen gar nichts, der Chef ist mit einem Schurz beklei­det. (1/16)

»Völ­li­ge Nackt­heit ist sel­ten. Bei­spie­le dafür bie­ten eine Pries­ter­sta­tue im Muse­um zu Gizeh und die Holz­sta­tu­et­te eines Man­nes aus Des­hash­eh.«

Altes Reich, 1. Dynastie, Plakette des Pharao Narmer. (4|16)Altes Reich, 1. Dynas­tie, Pla­ket­te des Pha­rao Nar­mer. (4|16)

»Im mitt­le­ren Reich trägt man zu dem Zweck, um die Bewe­gung des Kör­pers so unge­hin­dert als mög­lich zu machen, ent­we­der einen Schurz, der nur das Gesäß und die Sei­ten bedeckt, so dass die Vor­der­sei­te offen bleibt, oder einen ganz kur­zen… Oft wird aber wäh­rend der Arbeit der Schurz ganz abge­legt und nur der Gurt getra­gen.«

Im Grab des Ti, eines hohen Beam­ten in der 5. Dynas­tie des ägyp­ti­schen Rei­ches, ent­stan­den um 2400 v. Chr. umfang­rei­che Male­rei­en. Sie stel­len z. B. Sze­nen dar, die im Leben des Ti eine Rol­le spiel­ten, z. B. die Beauf­sich­ti­gung von Land­ar­beit, Ent­ge­gen­nah­me und Ver­bu­chung der Ern­te usw. Eini­ge der Land­ar­bei­ter tra­gen einen Schurz, der vorn offen ist und dem Geschlecht der Män­ner ent­spre­chend Frei­raum gibt. Ande­re tru­gen offen­sicht­lich gar kei­nen Schurz.

Altes Reich, 5. Dynastie, ca. 2400 v.C., Grab des Ti, Detail. Drei Männer tragen die knappe Schurz-Variante mit offener Front, einer ist ganz nackt. (8/16)Altes Reich, 5. Dynas­tie, Grab des Ti, Detail. Drei Män­ner tra­gen die knap­pe Schurz-Vari­an­te mit offe­ner Front, einer ist ganz nackt. (8/16)

Es erscheint uns heu­te nied­lich, dass dem Autor des Buches “Die Geschich­te des alten Ägyp­tens” von 1887 die­se Mode so fri­vol erschien, dass er für sein Buch eine bewusst fal­sche Kon­tu­ren­zeich­nung anfer­tig­te, in der ent­ge­gen der Ori­gi­nal-Male­rei alle Män­ner züch­tig ihr Geschlecht mit einem Schurz bedeck­ten — aber viel­leicht wäre sei­ne Buch­ver­öf­fent­li­chung andern­falls an der kai­ser­li­chen Zen­sur­be­hör­de geschei­tert? Eine Kon­tu­ren­zeich­nung des­sel­ben Motivs in dem Buch “Le tom­beau de Ti” von 1953 stell­te den Sach­ver­halt kor­rekt dar.

»Dem glei­chen Zweck unge­hin­der­ter Beweg­lich­keit sehen wir auch die Tracht der Sol­da­ten ange­passt, nur dass die­se mehr auf den Schutz der Scham­tei­le zu ach­ten haben. Sie tra­gen ent­we­der die glei­chen Schurz­for­men wie die Arbei­ter oder ver­kür­zen den vor­de­ren Teil des gewöhn­li­chen Schur­zes um die Hälf­te; fast immer aber ist am Gür­tel vorn ein oft beträcht­lich gro­ßes Schutz­blatt ange­bracht, das auch, wenn der Schurz zuwei­len … fort­ge­las­sen wird, nie fehlt.«

»Es ist klar, dass bei die­ser not­dürf­ti­gen Beklei­dung … eine ste­te Ver­hül­lung der Geschlechts­tei­le nicht mög­lich war. Dass hier­auf aber auch gar kein Wert gelegt wur­de, … das beweist … auch die Tat­sa­che, dass vie­le Arbei­ter … auch die letz­te Hül­le able­gen und ganz nackt arbei­ten.«

Frau­en: »Die Klei­dung der vor­neh­men Ägyp­te­rin besteht gewöhn­lich aus einem dün­nen, anlie­gen­den, bis auf die Knö­chel rei­chen­den Hemd, das über den Schul­tern von zwei Trag­bän­dern gehal­ten wird, sonst Busen, Schul­tern und Arme unver­hüllt lässt. … Ent­blö­ßun­gen kom­men hier, wie bei Män­nern, bei leb­haf­ter kör­per­li­cher Bewe­gung, Spiel und Arbeit vor.«

»Aus­nah­men von die­ser Beklei­dung bringt die in Neu­en Reich auf­kom­men­de Sit­te der Ent­hül­lung bei Lei­chen­fei­ern mit sich. Zum Zei­chen der Trau­er legen die Frau­en die Män­tel ab und gür­ten das Hemd unter­halb der Brüs­te, ein auch von Hero­dot und Dio­dor, und zwar für bei­de Geschlech­ter über­lie­fer­ter Brauch…«

Hier wird Ent­blö­ßung also als Ehr­erbie­tung zele­briert, ähn­lich wie Priester*innen vie­ler anti­ker Reli­gio­nen ihre Ehr­erbie­tung den Göt­tern gegen­über durch Nackt­heit aus­drück­ten.

Babylonien (ab ca. 1830 v. C.)

»Die alt­ba­by­lo­ni­sche Män­ner­tracht besteht wie die ägyp­ti­sche der älte­ren Zeit aus Schurz und Man­tel. Ers­te­rer reicht bei den Vor­neh­men bis zur Mit­te der Unter­schen­kel, wird jedoch von Krie­gern zuwei­len zur Erleich­te­rung der Bewe­gung vorn ver­kürzt. Beim Volk reicht er oft nur bis zum Knie; die vorn abge­run­de­ten oder die Vor­der­sei­te ent­blö­ßen­den ägyp­ti­schen For­men feh­len. Der Schurz ist das ein­zi­ge Klei­dungs­stück bei leb­haf­ter Bewe­gung.«

»Aus­nah­men von der gewöhn­li­chen Beklei­dung macht eine Rei­he von Kult­sze­nen… Eine wei­te­re Aus­nah­me ist die Nackt­heit der gefan­ge­nen und getö­te­ten Fein­de…«

Ein gefallener Soldat liegt am Boden. Die Sitte, getötete Feinde nackt auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen, war weit verbreitet, und hat sich bis in die griechische Zeit (Kampf um Troja) gehalten. Stele aus Uruk (Ausschnitt). (13|16)Ein gefal­le­ner Sol­dat liegt am Boden. Die Sit­te, getö­te­te Fein­de nackt auf dem Schlacht­feld lie­gen zu las­sen, war weit ver­brei­tet, und hat sich bis in die grie­chi­sche Zeit (Kampf um Tro­ja) gehal­ten. (13|16)

Gefan­ge­ne oder getö­te­te Fein­de durch Nackt­heit zu ent­eh­ren hat Tra­di­ti­on bis in die Jetzt­zeit. Zuletzt bekannt gewor­den sind ent­spre­chen­de Hand­lun­gen — heu­te als Ver­let­zung des Völ­ker­rechts und der Men­schen­rech­te gebrand­markt — von US-Sol­da­ten bei Fol­te­run­gen im Irak-Krieg.

Die Pola­ri­sie­rung, die Nackt­heit und Ent­blö­ßung bis in unse­re Gegen­wart aus­lö­sen, hat ihre Wur­zeln also in den Jahr­tau­sen­de alten Tra­di­tio­nen, durch Nackt­heit Ehr­erbie­tung aus­zu­drü­cken (Toten­eh­rung in Ägyp­ten, Göt­ter­eh­rung durch Pries­te­rIn­nen) oder aber Ent­eh­rung und Ent­rech­tung (bei Gefan­ge­nen und gefal­le­nen Fein­den).

»Die Frau tritt in der gesam­ten vor­der­asia­ti­schen Kunst ent­spre­chend ihrer Stel­lung im Leben sehr zurück; Sze­nen aus dem Innern des Hau­ses feh­len fast ganz. Ihre Tracht wird gebil­det aus einem Rock und einem schal­ar­ti­gen Tuch an Stel­le des Hem­des, das aber im Gegen­satz zu Ägyp­ten den gan­zen Ober­kör­per bedeckt.«

Babylonische Stele: Man trägt Mantel (16|16)16/16 Baby­lo­ni­sche Ste­le: Man trägt Man­tel (16|16)

Assyrien (ab ca. 1800 v. C.)

»Die Tracht des Man­nes, beson­ders des Krie­gers … bil­det ein bis zu den Knien rei­chen­des, gegür­te­tes Hemd mit kur­zen Ärmeln. Dazu tritt viel­fach eine schüt­zen­de Ver­hül­lung der Bei­ne durch hohe Stie­fel und Strümp­fe. … Wie in Ägyp­ten tra­gen die Schif­fer nur einen Gür­tel oder sind ganz nackt… Die Frau erscheint in den sel­te­nen Dar­stel­lun­gen ganz ver­hüllt.«

Syrien (ab ca. 1200 v. C.), verschiedene Völker

»So zeigt uns Syri­en das Maxi­mum an Ver­hül­lung im Ori­ent, eine Erschei­nung, die umso auf­fal­len­der ist, als hier kli­ma­ti­sche Grün­de durch­aus nicht über­all in Betracht kom­men…«

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