Spätestens nach der Entdeckung Amerikas begannen die Europäer, den Rest der Welt zu erobern und in allen Ländern die dortige indigene Bevölkerung zu unterdrücken, auszubeuten oder zu ermorden, was aufgrund der überlegenen Technik ihrer Feuerwaffen leicht möglich war. Nur vereinzelt und erst recht spät folgten Forscher den Eroberern mit dem Ziel, die indigenen Völker mit ihrer Sprache, ihrer Kultur und ihren Lebensgewohnheiten zu erforschen und zu dokumentieren.
Das Eindringen der europäischen und sonstigen Eroberer hatte für die indigenen Völker stets horrende Folgen:
1. Das Land, in dem sie seit Anbeginn lebten, wurde ihnen weggenommen.
2. Durch eingeschleppte Infektionskrankheiten, gegen die die Indigenen keinen Immunschutz besaßen, starben oft 80% bis 100% der Bevölkerung.
3. Die kulturelle Identität der Indigenen geriet oftmals in Vergessenheit, da ihnen die weiße Kultur aufgezwungen wurde.
4. Die Indigenen wurden versklavt und ausgebeutet, was zu der heutigen, verbreiteten Armut geführt hat.
Die indigenen Völker müssen bis heute nahezu überall um ihre Rechte kämpfen, die ihnen von den Eroberern gestohlen wurden. Sie sind, wenn sie in die Gesellschaft der Eroberer eingegangen sind, in der Regel erheblich benachteiligt. Etwa 100 kleinere Bevölkerungsgruppen haben sich bis heute dem Kontakt nach außen erfolgreich entzogen, überwiegend in Südamerika, einige auch in Polynesien. Fast alle leben nomadisch. Sie bewegen sich in kleinen, erweiterten Familiengruppen durch ihre Gebiete — abhängig von den Jahreszeiten.
Gerade zu der Zeit, als die Künstler in Europa die nackten Badenden wieder als Motiv entdeckten und die Idee des Naturismus die ersten Bestrebungen Richtung FKK hervorbrachte, reiste der Ethnologe Karl von den Steinen zwischen 1884 und 1887 ins Xingu-Gebiet in Mato Grosso (Brasilien) und besuchte dort mehrere indigene Volksgruppen, darunter die Yawalapiti im Erstkontakt. Er hat dabei intensiv deren Sprache, Kultur und Lebenspraxis erforscht. In seinen Büchern »Durch Central-Brasilien, 1886« und »Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, 1894« ging er auch auf Nacktheit und Scham ein:
»Unsere Eingeborenen haben keine geheimen Körperteile. Sie scherzen über sie in Wort und Bild mit voller Unbefangenheit, sodass es thöricht wäre, sie deshalb unanständig zu nennen.« Für die indigenen Menschen ist ihr Körper genauso selbstverständliches Äußeres wie für Europäer ihre Bekleidung.
Die Bedeckung bei den »Brasiliern« ist von Stamm zu Stamm verschieden
Über Männer berichtet von den Steinen: »Das Schamhaar ist ausgerupft; sie tragen nur eine Gürtelschnur in Gestalt eines Baumwollfadens, auf den gelegentlich kleine Halmstücke oder durchbohrte Samenkerne oder winzige Stücke Schneckenschale aufgereiht sind, aber meistens so, dass der grössere Teil der Schnur frei bleibt.«
»Die Hüftschnur dient zu dem Zwecke, das Praeputium zu verlängern. Der Penis wird aufwärts dem Leib angelegt und so unter die Hüftschnur geschoben, dass das oberste Stück des Praeputium abgeklemmt bleibt. Man hält den Jüngling zu diesem Verfahren an, wenn die ersten Erektionen eintreten. Er bemüht sich, die Prozedur Tagelang inne zu halten, und beseitigt das lästige Schamhaar.«
Die Sitte ist bei den einzelnen Stämmen jedoch unterschiedlich: »Die Trumaí hatten eine absonderliche Methode, die auch von andern brasilischen Stämmen berichtet wird. Sie banden das Praeputium vor der Glans mit einem meist mit Urukú rot gefärbten Baumwollfaden zusammen. Das Vorderende des Penis erschien wie ein Wurstzipfel. Sie hatten also im Dauerzustand das, was die Andern mit ihrer Hüftschnur nur vorübergehend hatten.«
Über Frauen schildert von den Steinen: »Die Trumaífrauen trugen eine Binde aus weichem, grauweisslichem Bast; sie war zu einem Strick gedreht, sodass eine Verhüllung nur in den aller bescheidensten Grenzen vorhanden war und sicherlich nicht beabsichtigt sein konnte, da man den Streifen nur hätte breiter zu nehmen brauchen. Sie rollten einen langen, schmal zusammengefalteten Baststreifen an einem Ende ein wenig auf, hielten dieses Röllchen mit der einen Hand gegen den untern Winkel des Schambergs angedrückt, drehten mit der andern Hand den freien Streifen einige Male um sich selbst und führten ihn zwischen den Beinen nach hinten hinauf, kamen wieder nach vorn zu dem Röllchen, drückten es mit dem quer darüberweg gespannten Streifen an und wandten sich über die andere Hüfte zum Kreuz zurück, wo sie das freie Ende einschlangen und festbanden.«
Auch bei den Frauen gibt es Unterschiede zwischen den Stämmen: »Die Bororófrauen hatten ebenfalls die weiche graue Bastbinde, die sie während der Menses durch eine schwarze ersetzten, nur befestigten sie die Binde an einer Hüftschnur. Dort in einer Breite von 3–4 Fingern, vorn eingeschlungen, lief sie schmäler werdend über die Schamspalte und den Damm zum Kreuz und wurde wieder an die Hüftschnur gebunden. Statt der Hüftschnur wurde auch ein breites, fest schliessendes Stück Rinde um den Leib getragen«
6(9) Die »Kleidung« bei Bakairi-Frauen
»Die Frauen der Karaiben, der Nu-Aruak- und Tupístämme des Schingú-Quellgebiets trugen sämtlich das dreieckige Stückchen starren Rindenbastes, das am bequemsten mit seinem Bakaïrínamen „Uluri“ bezeichnet wird. Die Uluris werden aus einem viereckigen Stück des ziemlich harten knitternden Stoffes durch Faltung in der Diagonale hergestellt; die Ränder der zwei so entstehenden leicht aufeinander federnden Dreiecke sind nach innen umgeschlagen, damit sie nicht scharf bleiben und einschneiden.«
»Das Uluri sitzt sehr tief dem Winkel des Schambergs auf; die untere Ecke des Dreiecks verlängert sich in einen etwa 4 mm breiten Dammstreifen aus hartem Rindenbast, während von den beiden oberen 2 dünne Fadenschnüre durch die Leistenbeugen um die Schenkel herum nach hinten laufen und dort mit dem schmalen Dammstreifen vereinigt werden, der von der unteren Spitze des Dreiecks her entgegenkommt.«
Alle diese Utensilien haben nicht den Zweck einer Bedeckung
»Den verschiedenen Methoden der Frauen gemeinsam ist der Verschluss, nicht die Verhüllung. Sie halten die Schleimhautteile zurück, wie bei den Männern die Glans verhindert wird vorzutreten. Zurückhalten der Schleimhaut ist der allen Vorrichtungen beider Geschlechter der gemeinsame mechanische Effekt.«
»Das Uluri erreicht ihn bei einer so weit getriebenen Reduktion der Bedeckung, dass die Verhüllung eher möglichst vermieden als gewünscht erscheint. Die Schleimhaut bleibt, da sie bei den Männern hinter dem Praeputium, bei den Frauen hinter den Labia majora zurückgehalten wird, der Aussenwelt überhaupt und somit allerdings auch den Blicken der Umgebung verborgen. „Kleidungsstücke“, deren Hauptzweck es wäre, dem Schamgefühl zu dienen, kann man doch nur im Scherz in jenen Vorrichtungen erblicken.«
Und wir finden bei von den Steinen auch eine einleuchtende Erklärung, warum die Menschen die Schleimhäute ihrer Genitalien unzugänglich halten: Als Schutz vor Zecken und andere Insekten.
7(9) Hocken, nicht setzen: Auch beim Kochen
»Die zum Teil winzig kleinen Schmarotzer saugen sich auf der Haut fest, pumpen sich voller Blut, bei ihrer dehnbaren Körperwandung bis zu Erbsengrösse anchwellend, und haften mit den in die Haut scharf eindringenden Hakenspitzen ihrer Kieferfühler so fest, dass man sie zerreisst, wenn man sie abpflücken will, und durch die zurückbleibenden Teile schmerzhafte Entzündungsstellen hervorgerufen werden.«
»Der Brasilier, der häufig mit Karapaten wie besät aus dem Walde kommt, entledigt sich schleunigst seiner Kleidung und schüttelt Hemd und Beinkleid über dem Lagerfeuer aus; hat sich einer der Schmarotzer in die Glans eingebohrt, so pflegt er ihm mit einer brennenden Zigarette so nahe auf den Leib zu rücken, als seine eigene Empfindlichkeit nur eben gestattet, damit das Tierchen, durch die Hitze bedrängt, freiwillig seinen Aufenthalt aufgiebt und sich aus der Schleimhaut zurückzieht, ohne zerrissen zu werden. Wir Alle haben trotz unserer Kleidung das eine oder andere Mal dieses Verfahren einschlagen müssen und die Situation, bevor die Erlösung erreicht ist, als eine der peinlichsten gekostet. Ich bin auch der Ansicht, dass der Schutz, dessen sich die Indianer erfreuen, sicherer ist, als der einer verhüllenden Bekleidung.«
9(9) Hocken, nicht setzen: Gib den Blutsaugern keine Chance
Die Zahl und Vielfalt der Zecken und ähnlicher Plagegeister im Regenwald ist der Grund, weshalb sich die Indigenen nicht auf den Boden setzen, sondern ihre Ruhe- und Bequemstellung in der Hocke finden. Und auch die Entfernung der Schamhaare diente bei beiden Geschlechtern dem Ziel, Läusen und ähnlichen Hautbewohnern kein Versteck und keinen Platz für den Nestbau zu bieten.
»Wie viel anderes beissendes, kneifendes, saugendes, einkriechendes Insektenzeug den südamerikanischen Waldbewohner noch auf ähnliche Art bedrängen kann, ist jedem Reisenden geläufig, der sich im brasilischen Wald auf den Boden gesetzt hat. Am hellsten werden diese Unannehmlichkeiten durch den Umstand beleuchtet, dass es auch der Bewohner des südamerikanischen Tropenwaldes gewesen ist, der die Hängematte, von den Engländern und Franzosen noch jetzt nach dem Nu-Aruakwort „amáka“ benannt, zu erfinden genötigt war.«
Meinungsdifferenzen über Eichelscham unter Ethnologen
Von den Steinen schreibt, dass er bei all seinen Kontakten mit »Brasiliern« nie die Vermutung anderer Ethnologen bestätigen oder widerlegen konnte, dass die Männer aus Scham, dass andere ihre Eichel sehen könnten, die Verlängerung ihrer Vorhaut betrieben. Aber selbst wenn dieses Schamgefühl existieren würde, würde von den Steinen »dieses Schamgefühl als Folge des eingewurzelten Gebrauchs betrachten und nicht als seine Ursache.«
Der Ethnologe Hans Peter Duerr, den wir aus seinem 5‑bändigen Werk „Der Mythos vom Zivilisationsprozess“ mehrfach zitiert haben, stellt das Hochbinden des Penis mit Hilfe einer Lendenschnur oder das Zubinden der Vorhaut mit einem Bändchen als Folge einer tiefgehenden Scham dar, dass andere Menschen die Eichel zu sehen bekommen könnten. Dabei zitiert Duerr u.a. auch das Buch von Karl von den Steinen.
Wahrscheinliche Lösung für diese unterschiedliche Einschätzung der Ethnologen ist wohl die Vielfalt der Indigenen Völker: Schon von den Steinen stellte bei den verschiedenen Stämmen im Gebiet des Xingu-Flusses breit gestreutes Verhalten und unterschiedliche Traditionen fest. In manchen Völkern mag also tatsächlich Eichelscham verbreitet sein, in anderen der Schutz vor Schädlingen der Grund für den Verschluss der Genitale sein — und in wieder anderen noch etwas Unerforschtes.
Hoffen wir, dass die Ethnologen das nie erfahren werden, weil der Schutz der wenigen noch unkontaktierten Völker Vorrang haben sollte vor unserer Neugier!
Wir sammeln aus den Informationen über indigene Völker die Erkenntnis, dass sie — wenn sie denn ohne Bedeckung auskamen — ihre Nacktheit als selbstverständlich und völlig unbelastend empfanden. Halt so wie Naturisten. Nur noch natürlicher, ursprünglicher und ohne die belastende Perspektive, dass die paradiesische (Kleidungs-) Freiheit nur von begrenzter Dauer und Lokalität ist.
Bilder (außer Zecken-Foto): Karl von den Steinen (1855–1929), Public Domain, ebenso Quelle aller Zitate (grün)