Zeche Nordstern in Gelsenkirchen-Horst
Das 19. Jhdt. war geprägt durch die fortschreitende Industrialisierung, die den Wandel von der zuvor dominierenden Agrarwirtschaft zu der Bildung eines breiten Proletariats im gesellschaftlichen Gegensatz zu einem herrschenden Kapital-Schicht erzeugte. Die Städte waren zunehmend verrußt durch Kohle-Abgase aus Hochöfen, Maschinenantrieben und Ofen-Heizung, die Menschen verarmt und verelendet trotz 12-stündiger Tagesarbeitszeit — für den Glücklichen, der Arbeit hatte. ⬈ Soziale Absicherung, etwa gegen Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit, gab es noch nicht.
Wohnhäuser in Bochum-Langendreer
Es begann das Jahrhundert, in dem die Hausfrauen ihre Wäsche nicht mehr im Freien zum Trocknen aufhängen konnten — der meist in der Luft schwebende Ruß machte die Wäsche sonst schnell schmutziger als sie vor dem Waschen war.
Diese Lebensumstände regten einige Menschen zum Nachdenken an, wie eine bessere und gesündere Zukunft zu gestalten sei. Sie besannen sich zurück auf die Natur als Basis allen Lebens, und es entstand der Naturismus:
Naturismus ist eine Geisteshaltung, in der der Mensch sich als Teil der Natur erkennt und sein Denken und Handeln daran ausrichtet, sich möglichst weitgehend in das Naturgeschehen einzufügen.
Dies schließt ein, dass der Naturist die Natur als Lebensraum zu erhalten und sie möglichst wenig zu (zer-) stören sucht, vorhandenen (Zer-) Störungen der Natur entgegentritt und sie zu restaurieren versucht, und dass er nur so viel erntet (d. h. der Natur entnimmt), wie es zum Leben nötig ist und wie in der Natur nachwachsen kann.
Naturismus impliziert eine Lebensweise, die sich von den Zwängen der Zivilisation und der gesellschaftlichen Werte und Normen bewusst absetzt und sich auf ursprüngliche, naturbezogene Wertbildung beruft.
Von der Lebensreform zur Nacktkultur
Arnold Rikli
Gern wird der Schweizer Naturmediziner Arnold Rikli (1823–1906), Begründer der »Atmosphärischen Kur«, bei der Licht- und Luftbäder eine wesentliche Rolle spielen, als Beginn der FKK-Bewegung deklariert. Rikli war ein Anhänger der sogenannten Lebensreform und beeinflusste u. a. den Maler und Sozialreformer Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913), der in Wien eine Landkommune nach den Prinzipien Riklis gründete.
James Burnett
Als noch früherer Anhänger nackter Lebenskultur wird auch James Burnett Lord Monboddo (1714–1779), ein schottischer Jurist und Linguist zitiert, der das Nacktbaden als Wiedererwachen der altgriechischen Nacktkultur pries und praktizierte. Es fand literarische Erwähnung in Georg Christoph Lichtenbergs (1742–1799) Buch ⬈ Das Luftbad.
Heinrich Pudor (1865–1943) promovierte 1889 über »Schopenhauers Metaphysik der Musik in seiner Welt als Wille und Vorstellung«. Er trat nur für kurze Zeit die Nachfolge seines Vaters als Leiter des Königlichen Konservatoriums in Dresden an, gab dieses aber ab, nachdem er sich wegen Deutschtümelei vehementer Kritik ausgesetzt sah. Danach gründete er einen Verlag (München, Berlin, später Leipzig), in dem er ausschließlich eigene Werke publizierte – überwiegend Lyrik und Erbauungsschriften, die Darlegungen seiner »Lebensreform« enthielten. 1891 erschienen in Heinrich Pudors Verlag mehrere Schriften zur Lebensreform und 1892 sein Buch »Nackende Menschen, Jauchzen der Zukunft«, das erste bedeutende deutschsprachige Werk zum Naturismus.
Karl Wilhelm Diefenbach
Am Morgen des 28. Januar 1882 erlebt Karl Wilhelm Diefenbach auf dem Hohen Peißenberg im Voralpenland den „Sonnen-Aufgang“ seiner Seele: seine Wandlung und Berufung zum prophetischen Reformator. In Kutte und Sandalen verkündete er nun in München seine Lehre. Seine Ideen (Leben im Einklang mit der Natur, Ablehnung der Monogamie, Abkehr von jedweder Religion, Bewegung an der frischen Luft und Ausübung der Freikörperkultur, sowie einer fleischlosen Ernährung als Veganer) wurden von seinen Zeitgenossen zum Anlass genommen, ihn als „Kohlrabi-Apostel“ zu verspotten und zu verfolgen. Nachdem die Polizei seine Versammlungen unterdrückt hatte, zog sich Diefenbach in einen verlassenen Steinbruch bei Höllriegelskreuth zurück. Eine kleine Kommune entstand, die nach den Lehren Eduard Baltzers lebte. Dort wurde der junge Maler Hugo Höppener sein Helfer und Jünger. Diefenbach nannte ihn Fidus, was zum Künstlernamen Höppeners wurde. Die Zeitschrift Die Schönheit (ab 1901) veröffentlichte Werke von Fidus, der zu einer Ikone der FKK-Bewegung wurde.
1906 legte Richard Ungewitter mit seinem Buch »Die Nacktheit« die erste umfassende Fundamentierung des Naturismus vor, die als Startpunkt der Breitenwirkung der damals zunächst so genannten Nacktkultur gelten kann. Erst später setzte sich der Begriff Freikörperkultur (FKK) durch.
Richard Ungewitter (1869–1958) war Gärtner und einer der frühen Pioniere der »Nacktkultur«. Sein erstes Buch »Die Nacktheit« erschien im Januar 1906 unter dem vollständigen Titel »Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Sicht«. Die Obrigkeit versuchte mehrfach, das Buch zu verbieten, aber die vom Gericht geladenen Gutachter plädierten zu Gunsten Ungewitters, so dass alle Verbotsversuche scheiterten.
In den folgenden Jahren veröffentlichte Richard Ungewitter weitere Bücher, mit denen er für die Nacktkultur warb. Das bekannteste seiner Werke ist wohl das 1908 erschienene Buch »Nackt«. Ebenfalls 1908 gründete Ungewitter die »Vereinigung für hygienische, ethische und ästhetische Kultur«. Dies war die zweite FKK-Gruppe in Deutschland nach dem 1893 gegründeten ⬈ Verein in Essen. Sie erreichte eine Stärke von rund 50 Mitgliedern.
Später wandte Ungewitter sich offen dem nationalsozialistischen Gedanken der »Rassenhygiene« zu und verlor für die Naturistenbewegung an Bedeutung. In seinen Büchern »Nacktheit und Kultur« (1920) und »Nacktheit und Aufstieg« (1922) wurde dieser Gedanke aufgegriffen und mit der Nacktkultur vermengt.
Adolf Koch
Adolf Koch versuchte als Lehrer seine reformerischen Vorstellungen von einer »neuen Erziehung« zu verwirklichen. Dazu gehörte, das Verhältnis von Geist und Körper auf eine neue Grundlage zu stellen.
Der Sportunterricht wurde seiner Meinung nach vernachlässigt, indem er sich auf monotone Turnübungen beschränkte. Koch setzte sich auch engagiert für die damals noch nicht selbstverständliche, tägliche Körper- und Zahnreinigung ein.
Koch machte sich nun an die Entwicklung einer modernen, allgemeinen Körper- und Haltungsschule in Verbindung mit freier, tänzerischer Gymnastik, besonders engagiert konzipierte er spezielle Übungen für Kinder. Die Freude an der Bewegung, den Spieltrieb und das phantasievolle Vorstellungsvermögen der kleineren Kinder ließ er dabei mit einfließen. Für die älteren Kinder entwickelte er Übungen, die besonders die physikalische Wirkung von Schwer- und Schwungkraft einbezogen.
Koch war es wichtig, dass Jungen und Mädchen gemeinsam übten, denn die Kinder sollten auch Respekt vor dem Körper des anderen Geschlechts erlernen und erfahren, dass Nacktheit an sich nichts Sexuelles ist. 1923 beendete Koch seine Gymnastiklehrerausbildung.
1924 gründete er sein Institut für Freikörperkultur und die Körperkulturschule Adolf Koch, in der er nackten Sport und z. B. auch nackten Tanz lehrte und praktizierte, und mit denen er im Lauf der Zeit dreizehn Gymnastikschulen in Deutschland aufbaute. Zu deren Programm gehörte neben der Gymnastik auch Wechselduschen, Höhensonnenbestrahlung, ärztliche Untersuchungen und Betreuung, Aussprachen zu allen Problemen und weitere Unterrichtsstunden.
Er selbst zu seinem Programm: »Spaß und Freude an der Bewegung stehen stets im Mittelpunkt. Selbstverständlich lassen sich diese lockeren Gymnastik-Stunden auch in freier Natur durchführen.«
Ergänzung zu Adolf Koch von deacademic.com (die Website ist nicht mehr verfügbar): Den Erfolgen dieser Schulen gingen harte Kämpfe voran. Mehrere Gerichtsverfahren wurden gegen ihn angestrengt, keines führte zu einer Verurteilung oder zur Schließung von Schulen. Die Prozesse kosteten Zeit und Kraft, machten Koch aber auch bekannt. Härter traf ihn nach 1933 das totale Verbot durch die Nationalsozialisten. Seine Institute wurden geschlossen, auch, weil er sich weigerte, sich von seinen jüdischen Mitarbeitern zu trennen. Seine Schriften standen auf der Liste der »verbotenen und undeutschen Bücher« und wurden bei der Bücherverbrennung in Berlin öffentlich verbrannt. Koch ließ sich nicht beirren, er arbeitete illegal weiter, gründete nacheinander unter anderem Namen zwei neue Institute und half vielen Juden und anderen NS-Verfolgten. Offiziell war er während des Krieges u. a. als Leiter für Verwundetensport und der Nachbehandlung von Versehrten (Schloss Marquardt bei Berlin) einberufen.
Der ⤷ Familien-Sport-Verein Adolf Koch e. V. in Berlin existiert bis heute. Seit der Gründung 1951 bis zu seinem Tode 1970 war Adolf Koch Vereins-Vorsitzender.
Das Luftbad, Kapitel 10, von Georg Christoph Lichtenberg
Dass den nackenden Körper ganz einer angenehm kühlen oder auch selbst einer kalten Luft auf kurze Zeit auszusetzen, eben die Wirkung ungefähr tut, wie das kalte Bad, wenigstens die angenehme Wärme beim Ankleiden hervorbringt, wie ein mäßig gebrauchtes kaltes Bad, werden vermutlich mehrere unserer Leser aus der Erfahrung wissen. Ja bei der guten Wirkung des kalten Bades selbst ist es ungewiß, wie viel davon der Berührung der Luft zugeschrieben werden muß, die nun, nachdem der Leib von allen unmerklichen Unreinigkeiten die die Ausdünstung zurück läßt, gereinigt ist, desto näher an den Körper antreten, und die beste Wirkung in kurzer Zeit hervorbringen kann. Vermutlich ist auch die Sache von Ärzten schon weiter untersucht worden als mir bekannt ist. Ich führe hier nur an, daß Franklin, dessen flüchtigste Äußerungen immer mit Respekt gehört zu werden verdienen, ein großer Freund von dem Luftbad gewesen ist. Besonders verdient aber hier erwähnt zu werden, das, freilich sonderbare, Cabinetstückchen von einem Menschen, ich meine Burnet Lord Monboddo, ein bekanntlich schwer gelehrter Mann. Der berühmte Schauspieler Foote nannte ihn eine Elzevirsche Ausgabe von Dr. Johnson, vermutlich weil sein Anblick weder an Koloß noch Bär erinnert, wovon das Kaliber des erstern und die Sitten des letztern leicht jedem ins Gedächtnis kommen mußten, der das Glück hatte den Doktor zu sehen, oder das Unglück ihm zu widersprechen. Man weiß leider freilich, daß Lord Monboddo glaubt, die Menschen wären ehemals riesenmäßig und dabei geschwänzt gewesen; daß er sogar deswegen den Weltumseglern Untersuchungs-Plane vorgelegt hat, die Sache aufs Reine zu bringen; daß er glaubt er spreche das Griechische völlig so aus, wie man es ehemals zu Athen ausgesprochen habe; daß er sich mit Öl salbt wie die Alten etc. Alles dieses kümmert uns hier wenig, genug er nimmt sehr oft ein Luftbad, das ist, er macht sich ganz nackend, in freier Luft, eine starke Bewegung, und glaubt, daß er es diesem Verfahren zu danken habe, daß er sich in seinem siebenzigsten Jahre noch so jung fühlt, als in seinem dreißigsten. Auch hat man mir erzählt, daß er die Fräulein Burnet, seine Töchter, zuweilen nötigen soll, dieses Bad zu gebrauchen, welches wegen der großen Durchsichtigkeit der Luft und (da man bei Tage baden muß) der großen Scharfsichtigkeit der im Stande der Schuld Lebenden wegen, immer eine bedenkliche Kur ist. Dieses alles war längst bekannt, und man achtete nicht viel darauf. Nun aber fängt doch die Sache an ernstlicher zu werden, wenigstens ist sie nun dahin gebracht, daß man davon reden kann, ohne zu fürchten, durch gesuchte unnütze Grübelei die Würde der Naturlehre, oder durch mutwillig scheinende Vorschläge die Majestät der Sittsamkeit und Unschuld zu beleidigen.