Zurück zur Natur

Zeche Nordstern in Gelsenkirchen-HorstZeche Nord­stern in Gel­sen­kir­chen-Horst

Das 19. Jhdt. war geprägt durch die fort­schrei­ten­de Indus­tria­li­sie­rung, die den Wan­del von der zuvor domi­nie­ren­den Agrar­wirt­schaft zu der Bil­dung eines brei­ten Pro­le­ta­ri­ats im gesell­schaft­li­chen Gegen­satz zu einem herr­schen­den Kapi­tal-Schicht erzeug­te. Die Städ­te waren zuneh­mend ver­rußt durch Koh­le-Abga­se aus Hoch­öfen, Maschi­nen­an­trie­ben und Ofen-Hei­zung, die Men­schen ver­armt und ver­elen­det trotz 12-stün­di­ger Tages­ar­beits­zeit — für den Glück­li­chen, der Arbeit hat­te. ⬈ Sozia­le Absi­che­rung, etwa gegen Krank­heit oder Arbeits­un­fä­hig­keit, gab es noch nicht.

Wohnhäuser in Bochum-LangendreerWohn­häu­ser in Bochum-Lan­gen­d­re­er

Es begann das Jahr­hun­dert, in dem die Haus­frau­en ihre Wäsche nicht mehr im Frei­en zum Trock­nen auf­hän­gen konn­ten — der meist in der Luft schwe­ben­de Ruß mach­te die Wäsche sonst schnell schmut­zi­ger als sie vor dem Waschen war.

Die­se Lebens­um­stän­de reg­ten eini­ge Men­schen zum Nach­den­ken an, wie eine bes­se­re und gesün­de­re Zukunft zu gestal­ten sei. Sie besan­nen sich zurück auf die Natur als Basis allen Lebens, und es ent­stand der Natu­ris­mus:

Natu­ris­mus ist eine Geis­tes­hal­tung, in der der Mensch sich als Teil der Natur erkennt und sein Den­ken und Han­deln dar­an aus­rich­tet, sich mög­lichst weit­ge­hend in das Natur­ge­sche­hen ein­zu­fü­gen.

Zeche Robert Mueser BochumZeche Robert Mue­ser Bochum

Dies schließt ein, dass der Natu­rist die Natur als Lebens­raum zu erhal­ten und sie mög­lichst wenig zu (zer-) stö­ren sucht, vor­han­de­nen (Zer-) Stö­run­gen der Natur ent­ge­gen­tritt und sie zu restau­rie­ren ver­sucht, und dass er nur so viel ern­tet (d. h. der Natur ent­nimmt), wie es zum Leben nötig ist und wie in der Natur nach­wach­sen kann.

Natu­ris­mus impli­ziert eine Lebens­wei­se, die sich von den Zwän­gen der Zivi­li­sa­ti­on und der gesell­schaft­li­chen Wer­te und Nor­men bewusst absetzt und sich auf ursprüng­li­che, natur­be­zo­ge­ne Wert­bil­dung beruft.

Zurück zur NaturverehrungZurück zur Natur­ver­eh­rung

Von der Lebensreform zur Nacktkultur

Arnold RikliArnold Rik­li

Gern wird der Schwei­zer Natur­me­di­zi­ner Arnold Rik­li (1823–1906), Begrün­der der »Atmo­sphä­ri­schen Kur«, bei der Licht- und Luft­bä­der eine wesent­li­che Rol­le spie­len, als Beginn der FKK-Bewe­gung dekla­riert. Rik­li war ein Anhän­ger der soge­nann­ten Lebens­re­form und beein­fluss­te u. a. den Maler und Sozi­al­re­for­mer Karl Wil­helm Die­fen­bach (1851–1913), der in Wien eine Land­kom­mu­ne nach den Prin­zi­pi­en Rik­lis grün­de­te.

James BurnettJames Bur­nett

Als noch frü­he­rer Anhän­ger nack­ter Lebens­kul­tur wird auch James Bur­nett Lord Mon­bod­do (1714–1779), ein schot­ti­scher Jurist und Lin­gu­ist zitiert, der das Nackt­ba­den als Wie­der­erwa­chen der alt­grie­chi­schen Nackt­kul­tur pries und prak­ti­zier­te. Es fand lite­ra­ri­sche Erwäh­nung in Georg Chris­toph Lich­ten­bergs (1742–1799) Buch ⬈ Das Luft­bad.

Hein­rich Pudor (1865–1943) pro­mo­vier­te 1889 über »Scho­pen­hau­ers Meta­phy­sik der Musik in sei­ner Welt als Wil­le und Vor­stel­lung«. Er trat nur für kur­ze Zeit die Nach­fol­ge sei­nes Vaters als Lei­ter des König­li­chen Kon­ser­va­to­ri­ums in Dres­den an, gab die­ses aber ab, nach­dem er sich wegen Deutsch­tü­me­lei vehe­men­ter Kri­tik aus­ge­setzt sah. Danach grün­de­te er einen Ver­lag (Mün­chen, Ber­lin, spä­ter Leip­zig), in dem er aus­schließ­lich eige­ne Wer­ke publi­zier­te – über­wie­gend Lyrik und Erbau­ungs­schrif­ten, die Dar­le­gun­gen sei­ner »Lebens­re­form« ent­hiel­ten. 1891 erschie­nen in Hein­rich Pudors Ver­lag meh­re­re Schrif­ten zur Lebens­re­form und 1892 sein Buch »Nacken­de Men­schen, Jauch­zen der Zukunft«, das ers­te bedeu­ten­de deutsch­spra­chi­ge Werk zum Natu­ris­mus.

Karl Wilhelm DiefenbachKarl Wil­helm Die­fen­bach

Am Mor­gen des 28. Janu­ar 1882 erlebt Karl Wil­helm Die­fen­bach auf dem Hohen Pei­ßen­berg im Vor­al­pen­land den „Son­nen-Auf­gang“ sei­ner See­le: sei­ne Wand­lung und Beru­fung zum pro­phe­ti­schen Refor­ma­tor. In Kut­te und San­da­len ver­kün­de­te er nun in Mün­chen sei­ne Leh­re. Sei­ne Ideen (Leben im Ein­klang mit der Natur, Ableh­nung der Mono­ga­mie, Abkehr von jed­we­der Reli­gi­on, Bewe­gung an der fri­schen Luft und Aus­übung der Frei­kör­per­kul­tur, sowie einer fleisch­lo­sen Ernäh­rung als Vega­ner) wur­den von sei­nen Zeit­ge­nos­sen zum Anlass genom­men, ihn als „Kohl­ra­bi-Apos­tel“ zu ver­spot­ten und zu ver­fol­gen. Nach­dem die Poli­zei sei­ne Ver­samm­lun­gen unter­drückt hat­te, zog sich Die­fen­bach in einen ver­las­se­nen Stein­bruch bei Höll­rie­gels­kreuth zurück. Eine klei­ne Kom­mu­ne ent­stand, die nach den Leh­ren Edu­ard Balt­zers leb­te. Dort wur­de der jun­ge Maler Hugo Höp­pe­ner sein Hel­fer und Jün­ger. Die­fen­bach nann­te ihn Fidus, was zum Künst­ler­na­men Höp­pen­ers wur­de. Die Zeit­schrift Die Schön­heit (ab 1901) ver­öf­fent­lich­te Wer­ke von Fidus, der zu einer Iko­ne der FKK-Bewe­gung wur­de.

1906 leg­te Richard Unge­wit­ter mit sei­nem Buch »Die Nackt­heit« die ers­te umfas­sen­de Fun­da­men­tie­rung des Natu­ris­mus vor, die als Start­punkt der Brei­ten­wir­kung der damals zunächst so genann­ten Nackt­kul­tur gel­ten kann. Erst spä­ter setz­te sich der Begriff Frei­kör­per­kul­tur (FKK) durch.

Richard UngewitterRichard Unge­wit­ter

Richard Unge­wit­ter (1869–1958) war Gärt­ner und einer der frü­hen Pio­nie­re der »Nackt­kul­tur«. Sein ers­tes Buch »Die Nackt­heit« erschien im Janu­ar 1906 unter dem voll­stän­di­gen Titel »Die Nackt­heit in ent­wick­lungs­ge­schicht­li­cher, gesund­heit­li­cher, mora­li­scher und künst­le­ri­scher Sicht«. Die Obrig­keit ver­such­te mehr­fach, das Buch zu ver­bie­ten, aber die vom Gericht gela­de­nen Gut­ach­ter plä­dier­ten zu Guns­ten Unge­wit­ters, so dass alle Ver­bots­ver­su­che schei­ter­ten.

In den fol­gen­den Jah­ren ver­öf­fent­lich­te Richard Unge­wit­ter wei­te­re Bücher, mit denen er für die Nackt­kul­tur warb. Das bekann­tes­te sei­ner Wer­ke ist wohl das 1908 erschie­ne­ne Buch »Nackt«. Eben­falls 1908 grün­de­te Unge­wit­ter die »Ver­ei­ni­gung für hygie­ni­sche, ethi­sche und ästhe­ti­sche Kul­tur«. Dies war die zwei­te FKK-Grup­pe in Deutsch­land nach dem 1893 gegrün­de­ten ⬈ Ver­ein in Essen. Sie erreich­te eine Stär­ke von rund 50 Mit­glie­dern.

Spä­ter wand­te Unge­wit­ter sich offen dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gedan­ken der »Ras­sen­hy­gie­ne« zu und ver­lor für die Natu­ris­ten­be­we­gung an Bedeu­tung. In sei­nen Büchern »Nackt­heit und Kul­tur« (1920) und »Nackt­heit und Auf­stieg« (1922) wur­de die­ser Gedan­ke auf­ge­grif­fen und mit der Nackt­kul­tur ver­mengt.

Adolf KochAdolf Koch

Adolf Koch ver­such­te als Leh­rer sei­ne refor­me­ri­schen Vor­stel­lun­gen von einer »neu­en Erzie­hung« zu ver­wirk­li­chen. Dazu gehör­te, das Ver­hält­nis von Geist und Kör­per auf eine neue Grund­la­ge zu stel­len.

Der Sport­un­ter­richt wur­de sei­ner Mei­nung nach ver­nach­läs­sigt, indem er sich auf mono­to­ne Turn­übun­gen beschränk­te. Koch setz­te sich auch enga­giert für die damals noch nicht selbst­ver­ständ­li­che, täg­li­che Kör­per- und Zahn­rei­ni­gung ein.

Koch mach­te sich nun an die Ent­wick­lung einer moder­nen, all­ge­mei­nen Kör­per- und Hal­tungs­schu­le in Ver­bin­dung mit frei­er, tän­ze­ri­scher Gym­nas­tik, beson­ders enga­giert kon­zi­pier­te er spe­zi­el­le Übun­gen für Kin­der. Die Freu­de an der Bewe­gung, den Spiel­trieb und das phan­ta­sie­vol­le Vor­stel­lungs­ver­mö­gen der klei­ne­ren Kin­der ließ er dabei mit ein­flie­ßen. Für die älte­ren Kin­der ent­wi­ckel­te er Übun­gen, die beson­ders die phy­si­ka­li­sche Wir­kung von Schwer- und Schwung­kraft ein­be­zo­gen.

Koch war es wich­tig, dass Jun­gen und Mäd­chen gemein­sam übten, denn die Kin­der soll­ten auch Respekt vor dem Kör­per des ande­ren Geschlechts erler­nen und erfah­ren, dass Nackt­heit an sich nichts Sexu­el­les ist. 1923 been­de­te Koch sei­ne Gym­nas­tik­leh­rer­aus­bil­dung.

1924 grün­de­te er sein Insti­tut für Frei­kör­per­kul­tur und die Kör­per­kul­tur­schu­le Adolf Koch, in der er nack­ten Sport und z. B. auch nack­ten Tanz lehr­te und prak­ti­zier­te, und mit denen er im Lauf der Zeit drei­zehn Gym­nas­tik­schu­len in Deutsch­land auf­bau­te. Zu deren Pro­gramm gehör­te neben der Gym­nas­tik auch Wech­sel­du­schen, Höhen­son­nen­be­strah­lung, ärzt­li­che Unter­su­chun­gen und Betreu­ung, Aus­spra­chen zu allen Pro­ble­men und wei­te­re Unter­richts­stun­den.

Er selbst zu sei­nem Pro­gramm: »Spaß und Freu­de an der Bewe­gung ste­hen stets im Mit­tel­punkt. Selbst­ver­ständ­lich las­sen sich die­se locke­ren Gym­nas­tik-Stun­den auch in frei­er Natur durch­füh­ren.«

Ergän­zung zu Adolf Koch von deacademic.com (die Web­site ist nicht mehr ver­füg­bar): Den Erfol­gen die­ser Schu­len gin­gen har­te Kämp­fe vor­an. Meh­re­re Gerichts­ver­fah­ren wur­den gegen ihn ange­strengt, kei­nes führ­te zu einer Ver­ur­tei­lung oder zur Schlie­ßung von Schu­len. Die Pro­zes­se kos­te­ten Zeit und Kraft, mach­ten Koch aber auch bekannt. Här­ter traf ihn nach 1933 das tota­le Ver­bot durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten. Sei­ne Insti­tu­te wur­den geschlos­sen, auch, weil er sich wei­ger­te, sich von sei­nen jüdi­schen Mit­ar­bei­tern zu tren­nen. Sei­ne Schrif­ten stan­den auf der Lis­te der »ver­bo­te­nen und undeut­schen Bücher« und wur­den bei der Bücher­ver­bren­nung in Ber­lin öffent­lich ver­brannt. Koch ließ sich nicht beir­ren, er arbei­te­te ille­gal wei­ter, grün­de­te nach­ein­an­der unter ande­rem Namen zwei neue Insti­tu­te und half vie­len Juden und ande­ren NS-Ver­folg­ten. Offi­zi­ell war er wäh­rend des Krie­ges u. a. als Lei­ter für Ver­wun­de­ten­sport und der Nach­be­hand­lung von Ver­sehr­ten (Schloss Mar­quardt bei Ber­lin) ein­be­ru­fen.

Der ⤷ Fami­li­en-Sport-Ver­ein Adolf Koch e. V. in Ber­lin exis­tiert bis heu­te. Seit der Grün­dung 1951 bis zu sei­nem Tode 1970 war Adolf Koch Ver­eins-Vor­sit­zen­der.

Das Luftbad, Kapitel 10, von Georg Christoph Lichtenberg

Dass den nacken­den Kör­per ganz einer ange­nehm küh­len oder auch selbst einer kal­ten Luft auf kur­ze Zeit aus­zu­set­zen, eben die Wir­kung unge­fähr tut, wie das kal­te Bad, wenigs­tens die ange­neh­me Wär­me beim Anklei­den her­vor­bringt, wie ein mäßig gebrauch­tes kal­tes Bad, wer­den ver­mut­lich meh­re­re unse­rer Leser aus der Erfah­rung wis­sen. Ja bei der guten Wir­kung des kal­ten Bades selbst ist es unge­wiß, wie viel davon der Berüh­rung der Luft zuge­schrie­ben wer­den muß, die nun, nach­dem der Leib von allen unmerk­li­chen Unrei­nig­kei­ten die die Aus­düns­tung zurück läßt, gerei­nigt ist, des­to näher an den Kör­per antre­ten, und die bes­te Wir­kung in kur­zer Zeit her­vor­brin­gen kann. Ver­mut­lich ist auch die Sache von Ärz­ten schon wei­ter unter­sucht wor­den als mir bekannt ist. Ich füh­re hier nur an, daß Frank­lin, des­sen flüch­tigs­te Äuße­run­gen immer mit Respekt gehört zu wer­den ver­die­nen, ein gro­ßer Freund von dem Luft­bad gewe­sen ist. Beson­ders ver­dient aber hier erwähnt zu wer­den, das, frei­lich son­der­ba­re, Cabi­net­stück­chen von einem Men­schen, ich mei­ne Bur­net Lord Mon­bod­do, ein bekannt­lich schwer gelehr­ter Mann. Der berühm­te Schau­spie­ler Foo­te nann­te ihn eine Elze­vir­sche Aus­ga­be von Dr. John­son, ver­mut­lich weil sein Anblick weder an Koloß noch Bär erin­nert, wovon das Kali­ber des erstern und die Sit­ten des letz­tern leicht jedem ins Gedächt­nis kom­men muß­ten, der das Glück hat­te den Dok­tor zu sehen, oder das Unglück ihm zu wider­spre­chen. Man weiß lei­der frei­lich, daß Lord Mon­bod­do glaubt, die Men­schen wären ehe­mals rie­sen­mä­ßig und dabei geschwänzt gewe­sen; daß er sogar des­we­gen den Welt­um­seg­lern Unter­su­chungs-Pla­ne vor­ge­legt hat, die Sache aufs Rei­ne zu brin­gen; daß er glaubt er spre­che das Grie­chi­sche völ­lig so aus, wie man es ehe­mals zu Athen aus­ge­spro­chen habe; daß er sich mit Öl salbt wie die Alten etc. Alles die­ses küm­mert uns hier wenig, genug er nimmt sehr oft ein Luft­bad, das ist, er macht sich ganz nackend, in frei­er Luft, eine star­ke Bewe­gung, und glaubt, daß er es die­sem Ver­fah­ren zu dan­ken habe, daß er sich in sei­nem sie­ben­zigs­ten Jah­re noch so jung fühlt, als in sei­nem drei­ßigs­ten. Auch hat man mir erzählt, daß er die Fräu­lein Bur­net, sei­ne Töch­ter, zuwei­len nöti­gen soll, die­ses Bad zu gebrau­chen, wel­ches wegen der gro­ßen Durch­sich­tig­keit der Luft und (da man bei Tage baden muß) der gro­ßen Scharf­sich­tig­keit der im Stan­de der Schuld Leben­den wegen, immer eine bedenk­li­che Kur ist. Die­ses alles war längst bekannt, und man ach­te­te nicht viel dar­auf. Nun aber fängt doch die Sache an ernst­li­cher zu wer­den, wenigs­tens ist sie nun dahin gebracht, daß man davon reden kann, ohne zu fürch­ten, durch gesuch­te unnüt­ze Grü­be­lei die Wür­de der Natur­leh­re, oder durch mut­wil­lig schei­nen­de Vor­schlä­ge die Majes­tät der Sitt­sam­keit und Unschuld zu belei­di­gen.