Revolution durch Sprache

Wenn wir die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit heu­ti­ger Affen-Popu­la­tio­nen betrach­ten, dann fehlt zwar allen Affen­ar­ten eine Ent­wick­lung zur Spra­che, aber eine Kom­mu­ni­ka­ti­on über unter­schied­li­che Rufe, Ges­ten und Berüh­run­gen ist durch­aus gut ent­wi­ckelt. Die Ebe­ne und die Aus­drucks­viel­falt der Kom­mu­ni­ka­ti­on sind zwar ein­drucks­voll, jedoch wegen der feh­len­den Laut­bil­dung begrenzt.

Der Homo hei­del­ber­gen­sis, der mut­maß­li­che Vor­fah­re des Homo sapi­ens und des Nean­der­ta­lers, ver­füg­te vor rund 500.000 Jah­ren bereits über die ana­to­mi­schen Vor­aus­set­zun­gen, einer­seits Lau­te zu hören, aber vor allem die­se mit Hil­fe des Kehl­kopfs und des Zun­gen­beins zu bil­den. Das Sprach­zen­trum im Gehirn ist sogar noch wesent­lich älter, es hat bereits vor 2 Mil­lio­nen Jah­ren begon­nen, sich zu ent­wi­ckeln.

Das bedeu­tet, dass die Revo­lu­ti­on der mensch­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on hin zur Spra­che in der Mensch­heits­en­wick­lung schon recht früh ein­ge­setzt hat. Und sicher wur­de die­se Ent­wick­lung von beson­ders begab­ten Per­so­nen aus­gie­big genutzt und ent­wi­ckelt, wäh­rend sich ande­re, weni­ger Begab­te, erst ein­mal mit Zuschau­en oder ver­such­ten Nach­ah­mun­gen begnü­gen muss­ten.

Durch die Ent­wick­lung zur Spra­che ent­stand inner­halb der Rudel mit der Zeit eine kul­tu­rel­le Eli­te durch kom­mu­ni­ka­ti­ve Über­le­gen­heit, also eine par­al­le­le hier­ar­chi­sche Struk­tur neben der tra­di­tio­nell auf Kör­per­kraft, Tak­tik­stär­ke oder Füh­rungs­fä­hig­keit basie­ren­den Rudel­füh­rer­schaft. Mit der Wei­ter­ent­wick­lung der Laut­bil­dung zu einer Spra­che wur­de die­se Kul­tur­struk­tur immer wich­ti­ger und gab der Gemein­schaft einen zusätz­li­chen, kul­tu­rel­len Zusam­men­halt.

Natür­lich hat­te die­se sich ent­wi­ckeln­de kul­tu­rel­le Eli­te bald auch zur Fol­ge, dass man sich an den Bot­schaf­ten der kul­tu­rel­len Füh­rer ori­en­tier­te. Die­se nutz­ten ihre Über­le­gen­heit und erfan­den Geschich­ten über Din­ge, die ande­ren geheim­nis­voll waren, und gaben vor, Lösun­gen für sonst unlös­ba­re Fra­gen gefun­den zu haben: Sie ent­wi­ckel­ten Phan­ta­sie, erfan­den Göt­ter und Dämo­nen — und auch zuge­hö­ri­ge Rezep­te, wie man die­se am bes­ten beein­flus­sen konn­te.

Die Abhän­gig­keit der Men­schen von der Natur war damals noch viel grö­ßer als heu­te, und um die Natur­kräf­te — als Göt­ter per­so­ni­fi­ziert — gnä­dig zu stim­men, waren Ver­eh­rung und Opfer­ga­ben eine gute Emp­feh­lung, denn Göt­ter sind mäch­tig und eigen­wil­lig, zei­gen sich aber gnä­dig, wenn sie umschmei­chelt und ver­wöhnt wer­den.

Wettergott Thor - seinen Launen ist man als Mensch ausgeliefert. Aber Beten und Opfern hilft - erzählen zumindest die Priester (1|5)Wet­ter­gott Thor — sei­nen Lau­nen ist man als Mensch aus­ge­lie­fert. Aber Beten und Opfern hilft — das erzäh­len zumin­dest die Pries­ter (1|5)

Zumin­dest ein Teil der durch gute Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit bevor­teil­ten Men­schen ent­wi­ckel­te also die Geschäfts­idee, sich als Mitt­ler zu den Göt­tern zu ver­mark­ten. So kam es dazu, dass die­se Men­schen sich im Rudel Bewun­de­rung und Vor­tei­le auf­bau­en konn­ten, idem sie vor­ga­ben, das Schick­sal der Men­schen, Glück oder Unglück, Krank­heit oder Hei­lung, Wet­ter, Frucht­bar­keit und vie­les mehr, wunsch­ge­mäß beein­flus­sen zu kön­nen. Eine bis heu­te weit ver­brei­te­te Geschäfts­idee: Viel älter und ertrag­rei­cher als der „Enkel­trick“…

Die Erfindung des Schmucks

Wer sich aus der Mas­se abhebt, nutzt gern auch beson­de­re Sym­bo­le, die dies zum Aus­druck brin­gen: Viel­leicht trägt man eine beson­de­re Feder im Haar oder eine Ket­te mit extra gro­ßen, pracht­vol­len Tier­zäh­nen um den Hals. Die Erfin­dung des Schmucks zur Kenn­zeich­nung der Beson­der­heit eines Men­schen ist sicher eine sehr alte Geschich­te.

Der Chef trägt als einziger ein Halsband als Schmuck - seine Schüler müssen sich diese Ehre erst noch verdienen (2|5)Pri­vi­le­giert: Der Chef trägt als ein­zi­ger ein Hals­band als Schmuck — sei­ne Schü­ler müs­sen sich die­se Ehre erst noch ver­die­nen (2|5)

Wer Schmuck trägt, der beginnt dabei, Tei­le sei­nes Kör­pers damit zu bede­cken. Und wer sich dar­an gewöhnt hat, Tei­le sei­nes Kör­pers zu schmü­cken und zu bede­cken, der mag irgend­wann auf die­sen Schmuck und die­se Bede­ckung nicht mehr ver­zich­ten. So kann durch Gewohn­heit, Schmuck zu tra­gen, auch die Gewohn­heit, Tei­le des Kör­pers zu bede­cken, gewach­sen sein — eine Ent­wick­lung hin zur Klei­dung. Und wenn jeman­dem sei­ne Bede­ckung fort­ge­nom­men wird oder er gezwun­gen wird, sei­nen Schmuck her­zu­ge­ben, dann schämt er sich womög­lich, dass er plötz­lich ohne Bede­ckung und ohne Schmuck dasteht.

Sich dafür schä­men, dass ein Stan­dard oder ein Sta­tus ver­lo­ren geht, ist in einer sozia­len Gemein­schaft etwas Typi­sches, und es kann durch­aus sein, dass die­ser Zusam­men­hang für die Geschich­te der Scham-Ent­wick­lung eine Rol­le gespielt hat.

Die Erfin­dung von Schmuck kann durch die Wir­kung, Tei­le des Kör­pers zu bede­cken, auch die Ent­wick­lung zu Klei­dung geför­dert haben, denn die Bede­ckungs­wir­kung ist letzt­lich die­sel­be. Und da Klei­dung zu Beginn der Ent­wick­lung sicher genau­so exklu­siv und nicht für jeden ver­füg­bar war, ist der Unter­schied zwi­schen Schmuck und Klei­dung nicht groß.

Tierzähne sind als wertvoller Schmuck stark angesagt. Aufwändige Körperbemalung rundet die Wirkung ab. (3|5)Tier­zäh­ne sind als wert­vol­ler Schmuck stark ange­sagt. Auf­wän­di­ge Kör­per­be­ma­lung run­det die Wir­kung ab. (3|5)

Dabei gehör­ten zu den ers­ten „Klei­dungs­stü­cken“ z. B. Hals­bän­der oder Len­den­schnü­re, an denen man auch Uten­si­li­en befes­ti­gen oder auf­hän­gen konn­te, die man sonst immer in der Hand tra­gen muss­te. So zeig­te sich auch als­bald die prak­ti­sche Sei­te der „Klei­dung“.

Langfristig siegte die Kleidung über die Nacktheit

Dass zu Beginn der 6 Mil­lio­nen Jah­re der Mensch­heits­ent­wick­lung noch alle nackt waren, liegt auf der Hand, denn die Vor­men­schen waren noch sehr affen­ähn­lich. Doch im Ver­lauf der spä­te­ren Zeit stell­te sich eine Ent­wick­lung ein, in der sich nach und nach die Men­schen in fast allen Kul­tu­ren beklei­de­ten.

Dass die ent­ste­hen­den kul­tu­rel­len Struk­tu­ren in den mensch­li­chen Gemein­schaf­ten, die ins­bes­ode­re durch die Ent­wick­lung zur Spra­che geför­dert wur­den, zu Pri­vi­le­gi­en wie Schmuck und Klei­dung führ­ten, klingt sehr plau­si­bel. Dass die Scham, die bei Ver­lust sol­cher Pri­vi­le­gi­en ent­stand, sich dann auch zu einer all­ge­mei­nen Kör­per­scham ent­wi­ckeln konn­te, liegt eben­so nahe. Inso­fern sind die durch Unlo­gik auf­fal­len­den Dar­stel­lun­gen der Schöp­fungs­ge­schich­te zu die­sem The­ma abge­hakt.

Dafür, dass die Klei­dungs-Pra­xis im Lau­fe der Zeit schließ­lich gegen­über dem nack­ten Lebens die Ober­hand gewann, gibt es meh­re­re Grün­de:
  • ► Die Erfin­dung von Schmuck, der, je üppi­ger er wur­de, auch bede­ckend wur­de und sich zu klei­den­dem Schmuck und schließ­lich zu Klei­dung ent­wi­ckel­te. Zunächst war sowohl Schmuck wie spä­ter Klei­dung Sta­tus­sym­bol der Eli­ten, damit aber auch begeh­rens­wert.
  • ► Der Schutz vor Käl­te, nach­dem Men­schen in küh­le­re Regio­nen aus­ge­wan­dert waren, in denen etwa wäh­rend der Eis­zei­ten ein klei­dungs­frei­es Leben gar nicht mög­lich war.
  • ► Der prak­ti­sche Nut­zen von Hals­bän­dern, Tra­ge­tü­chern, Köchern, Len­den­schnü­ren bis schließ­lich hin zur Hosen­ta­sche zum Trans­port von aller­lei Gegen­stän­den, die man gern stän­dig bei sich hat.
  • ► Das Auf­kom­men von Hand­lungs­scham, sexu­el­le Akti­vi­tä­ten nicht im Bei­sein der gan­zen Grup­pe zu voll­zie­hen, son­dern abseits (ver­steckt vor dem Rudel­chef). Dies führ­te im Wei­te­ren zur Ent­wick­lung einer Geni­tal­scham, die dazu führ­te, dass man begann, die Geschlechts­or­ga­ne zu bede­cken.
  • ► Das Auf­kom­men von Hand­lungs­scham, was die Vor­gän­ge der Aus­schei­dung betraf, die sich dann wei­ter zur Kör­per­teil­scham der dar­an betei­lig­ten Kör­per­tei­le ent­wi­ckel­te.
  • ► Wäh­rend der Unter­drü­ckung der Welt durch euro­päi­sche Kolo­ni­al­mäch­te wur­den die indi­ge­nen Bevöl­ke­run­gen viel­fach zur Beklei­dung gezwun­gen.

Unge­klärt ist aber, wann genau Men­schen began­nen, Klei­dung zu tra­gen. Als ein­deu­ti­gen Hin­weis, dass der Nean­der­ta­ler Tier­fel­le als wär­men­de Klei­dung ver­wen­de­te, gilt der Fund von Spu­ren erhöh­ter Eichen­säu­re-Kon­zen­tra­ti­on an einem Stein­werk­zeug bei Fran­kle­ben in Sach­sen-Anhalt, des­sen Alter auf ca. 200.000 Jah­re bestimmt wor­den ist. Natür­lich kommt Eichen­säu­re, die zum Ger­ben von Tier­häu­ten gebraucht wird, nur in deut­lich gerin­ge­rer Kon­zen­tra­ti­on vor.

Nach Auf­fas­sung des Anthro­po­lo­gen Alex­an­der Pas­hos lässt sich der geschicht­li­che Zeit­punkt, seit dem Men­schen regel­mä­ßig Klei­dung tru­gen, aus dem Auf­tre­ten der Klei­der­laus schät­zen. Dar­aus gefol­gert deu­ten aktu­el­le Gen­ana­ly­sen auf einen Ent­ste­hungs­zeit­raum vor etwa 75.000 Jah­ren hin.

Ande­re For­scher wie David Reed set­zen den Beginn der Klei­dung noch weit frü­her an. In sei­ner Publi­ka­ti­on »Pair of lice lost or para­si­tes regai­ned: The evo­lu­tio­na­ry histo­ry of Anthro­po­id pri­ma­te lice (BMC Bio­lo­gy)« schluss­fol­gert er eine ers­te Ver­wen­dung von Klei­dung vor 650.000 Jah­ren.

Der ältes­te archäo­lo­gi­sche Fund ist ein 23.000 Jah­re alter Umhang aus Eich­hörn­chen-Fell in einer Höh­le in Ligu­ri­en. Die frü­hes­te Ver­wen­dung pflanz­li­cher Roh­stof­fe für die Her­stel­lung von Tex­ti­li­en (Lei­nen, Hanf) wur­de auf 36.000 Jah­re datiert.

Arti­kel aus ⤷ Spek­trum der Wis­sen­schaftDes-Men­schen-ers­te-Klei­der (PDF)

Die Ent­wick­lung der Mensch­heit von der nack­ten Natür­lich­keit zur Klei­dung ist im Ver­gleich zu der Ent­wick­lung von der natur­be­zo­ge­nen Lebens­art der Men­schen hin zur Tech­ni­sie­rung und Indus­tria­li­sie­rung nur eine Neben­er­schei­nung. Eine Rück­be­sin­nung auf die wohl­tu­en­den Kräf­te der Natur erfolg­te u. a. im 19. Jahr­hun­dert als Ant­wort auf die Aus­wir­kun­gen der unge­hemm­ten Indus­tria­li­sie­rung und die resul­tie­ren­den sozia­len Pro­ble­me, die für einen Groß­teil der Men­schen kata­stro­pha­le Lebens­be­din­gun­gen zur Fol­ge hat­te. Das Wort »Natu­ris­mus« wird heu­te im Wesent­li­chen für die Ent­wick­lun­gen ver­wen­det, die in die­ser Zeit ihren Anfang nah­men. Dass von Beginn an der Ver­zicht auf Klei­dung ein mar­kan­ter Bau­stein die­ser »zurück zur Natur« Bewe­gung war, hat ihr auch eine zusätz­li­che Auf­merk­sam­keit beschert.